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Der Weg zur irdischen und ewigen Heimat

Über der Bergwand flammte goldrot neben blaudunklen Schattenfeldern das Abendlicht. Auf den Wiesenhängen darunter lag der erste Schimmer des Frühlings. Lichtgelbe Primeln und silberne Windröschen hoben ihr Antlitz aus den im Abendwind zitternden Gräsern und von den Dornenhecken am Rande der Wiesen her wehte der Hauch von blühendem Seidelbast. In herber Reinheit und betörender Süße öffnete sich der Bergwald dem steigenden Sonnenjahr.

Winfried, der Arzt, kam von seinen Krankenbesuchen herauf zu seinem Haus am Hügelhang. Unschlüssig blieb er am Zaun stehen. Er warf einen Blick in seinen vernachlässigten Garten, in dem zwischen Vogelmieren und Löwenzahn verkümmerte Hyazinthen und Schwertlilien ans Licht drängten, und sah dann über die Wiesen und Waldstreifen hinauf zur Bergwand. Es überfiel ihn wie ein unruhiges Ziehen.


‘Ein Tag vergeht mir wie der andere’, dachte er. ‘Ich helfe bei Geburten, ich stelle Totenscheine aus, ich verbinde Wunden und richte Knochenbrüche und Verrenkungen ein, ich bemühe mich um heilbare und unheilbare Krankheiten, ich helfe da und dort, so gut ich es eben vermag. Aber was können wir Arzte eigentlich? Wir sind froh, wenn uns kein Kunstfehler unterläuft und müssen im übrigen, wenn wir’s auch nicht gerne zugeben, das meiste laufen lassen, wie es eben läuft. Immer mehr bedrückt mich die Ahnung, dass wir trotz allen Erkenntnissen unserer Wissenschaft gegenüber den wirklichen Ursachen, den Gründen des Geschehens jenseits des mechanischen und chemischen Oberflächenspiels blind geworden sind.

Halb unbewusst rüttelte er am verschlossenen Gartentor und suchte dann in seinen Taschen nach dem Schlüsselbund. Er zog ihn hervor und wog ihn nachdenklich in der Hand. ‘Wenn ich nur die anderen Schlüssel auch einmal fände, die Schlüssel, an denen mir mehr liegt. Verschlossene Tore überall, wenn man mehr will als die Oberfläche, die sinnenhaft fassbare trügerische Decke des Lebens!’

Er sah wieder hinauf zur Bergwand. ‘Eine Viertelstunde im Wald, eine Viertelstunde Freiheit will ich mir heute gestatten, die wirklichen Schlüssel zu suchen.’

Mit weit ausgreifenden Schritten stieg er bergan. An einer Kehre des schmalen Steiges, der zwischen den Wiesenhängen zum Wald emporklomm, verhielt er und blickte hinab in das Tal, das schon im Schattendunkel versank. Hier oben aber, wo er veratmend stand, lebte noch die untergehende Sonne. Da war es ihm plötzlich, als ruhe der Blick eines Menschen auf ihm. Ein Wehen von unendlicher Güte, befreiend und bergend zugleich, drang ihm bis ins Herz. Er wandte sich um. Ein blaugoldenes Leuchten füllte seine Augen, die eben noch im Schattenweben des Tals geruht hatten. Über ihm, ein paar Schritte über dem Wege saß auf einem Stein in der letzten Sonne eine Gestalt, ein junges Mädchen in sommerlich lichtblauem Gewand. Der Abendwind spielte mit ihrem wie goldene Wolken schimmernden Haar, das auf die Schultern niederhing, und mit dem Saum ihres Gewandes. Einen Herzschlag lang sah sie Winfried mit seltsamer Gelassenheit in die Augen, dann senkte sie den Blick. In ihrem Schoß lagen Himmelsschlüssel und Enziankelche, einige hielt sie schon zu einem Strauße geordnet in der Hand.

Winfried war völlig verwirrt. Er empfand sein Herz wie eine Bergeslast in seiner Brust hängend und zugleich wie flutendes Licht in die Weite strömend. Da wurde er sich mit plötzlichem Schreck bewusst, dass er das Mädchen schon irgendeine Zeit unverwandt ansah, eine Ewigkeit lang, wie es ihm schien. Zögernd wandte er sich zum Weitergehen. Sein Blick fiel auf ihre Hand, die den Strauß hielt. Ein schmales Rinnsal von Blut sickerte zwischen den Fingern hervor. ‘Sie sind verletzt?’ fragte er. Sie schaute auf. ‘Es hat nicht viel zu bedeuten’, sagte sie, ‘ich war einem Stein im Wege, der von der Wand dort zu Boden rollte. Ach so, es blutet wieder.’ Sie legte den Strauß neben sich auf den Stein und wollte ihr Taschentuch um die Hand winden.

‘Überlassen Sie das mir’, bat er. Als er die verletzte Hand betrachtete, schüttelte er den Kopf. ‘Die Wunde ist nicht so harmlos’, sagte er, ‘sie geht bis an die Fingergelenke. Sie hielten wohl die Hände über den Kopf, als Sie den Stein herabsausen hörten, sonst wäre es noch übler gegangen. Aber das muss richtig verbunden werden. Sie haben doch auch starke Schmerzen?’ ‘Anfangs sehr’, gab sie zu, ‘aber jetzt nicht mehr so.’ ‘Sie sind sehr tapfer’, nickte er, ‘aber kommen Sie bitte mit mir. Ich bin Arzt, gleich da drunten ist mein Haus, da kann ich das Nötige für die Wunde tun.’

‘Ich wohne hier allein und meine Sprechstundenhilfe und Hausbesorgerin ist jedenfalls schon weggegangen’, sagte er, als er neben ihr das Gartentor aufschloss. ‘Aber Sie brauchen...’ Sie lächelte. ‘Ich kenne Sie besser, als Sie sich selbst kennen, und einmal werden Sie mir so vertrauen, wie ich Ihnen vertraue. Kommen Sie.’

‘Ich heiße Maria’, sagte sie, als er ihre Hand verbunden hatte und sie nun forschend ansah, als wolle er sie um ihren Namen fragen. Er begleitete sie hinaus bis vor das Gartentor. ‘Darf ich Sie wiedersehen?’ fragte er seltsam beklommen und neigte sich zum Abschied über ihre rechte Hand. Sie antwortete nicht, in ihren Augen lag ein geheimnishaftes Leuchten wie von jenseits der Erde, ein Meeresleuchten wie das Himmelsblau über Bergesgipfeln. Es rauschte um ihn wie von strömenden Wassern, es flammte um ihn wie Feuermeere, als er nun ihre Stimme hörte wie keines Menschen Stimme mehr: ‘Winfried, wir sind eins seit undenklichen Zeiten. Ich werde wiederkommen, um dein zu sein für immer.’

‘Nun habe ich die Schlüssel gefunden’, sagte Winfried leise zu sich selbst, als er denken konnte, ‘die Himmelsschlüssel, die goldenen Schlüssel zum Leben, und alle in einem.’ Er sah der Gestalt nach, die wie irgendein Mensch dort unten in die Dämmerung schritt, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Er ging zurück in sein Sprechzimmer. Blau und golden leuchtete es aus einer Schale auf dem Verbandstisch: Enziankelche und Himmelsschlüssel. Sie hatte sie ihm dagelassen, ohne dass er es bemerkt hatte, wie zum Zeichen dieser Stunde, der auch die Blutstropfen neben der Schale zugehörten. ‘Blutrot, Samtblau und Gold, der Dreiklang des Herzens, der Grundklang, die tragende Mitte des Höheren Lebens. Als ‘DU’ leuchtet er in mir auf und zugleich als ‘ICH’. Wie leicht ist es nun, das Rechte zu tun, wenn ich alle meine Gefühle, Gedanken und Taten am Leuchten dieser tragenden Mitte messe, am Klang dieses unsagbar reinen und holden Brausens. Ich habe den Schlüssel gefunden.’

ICH UND DU

Im Frühlicht des Ostertages stand Winfried in seinem Garten. Er hatte während der letzten Woche in seiner kargen Freizeit das Unkraut ausgerodet. Nun sah er über die kümmerlichen Reste der Blütenfülle aus früheren Jahren hin. Die meisten Blumen und Sträucher waren in den Jahren der Vernachlässigung zwischen Brennnesseln und wildwucherndem Wegelagerer und Schmarotzergesindel erstickt. ‘Wie konnte ich nur für alle Schönheit des Lebens so blind werden und mich immer tiefer in den staubigen Alltag einspinnen lassen? Wie konnte ich nur so innerlich einsam leben wollen? Ohne Menschen, die mir zutiefst nahe standen, ohne Sinn für die Herrlichkeit der lebendigen, immer wieder jung werdenden Welt, für Sonne und Morgenwind, für die mütterliche Zartheit der Wiesen und des Waldes, für die erlösende Kraft des Abendwindes und der Sternennächte! Wenigstens für einige Augenblicke des Tages oder der Nacht hätte ich mich dafür offenhalten sollen.’

Eine Welle der Freude riss ihn aus seinen Gedanken. Maria stand am offenen Gartentor. Er führte sie zwischen den kahlen Beeten hindurch. ‘Sieh’, sagte er, ‘so weit bin ich gekommen. Aber nun weiß ich nicht, wie es am schönsten neu zu ordnen wäre.

‘Du hast das Notwendige getan, überlasse nun das Weitere mir. In einem Jahr sollst du mir sagen, ob dich dein verwandelter Garten, der jetzt kaum mehr als gerodeter, blühwilliger Grund ist, mit Freude erfüllt. In mir und durch mich sollst du endlich deine irdische und ewige Heimat finden.’

Er hielt ihre Hände in den seinen. ‘Heute ist Ostersonntag’, sagte er nach einer Weile, ‘der Tag der Auferstehung.’

‘Ja. Lass ihn aber nicht durch Äußerlichkeiten von Riten und Gebräuchen, lass ihn in deinem Herzen leben. Und jeder Tag und jede Nacht des Jahres soll dir irgendwie und irgendwann Ostern und Weihnachten sein: Aufbruch des Inneren Lichtes, der mystischen Rose des Herzens aus der Winterkälte, aus der Erstarrung, aus der Verbitterung und der Selbstsucht, aus dem grauen Staub des Alltags. Die Unendliche Liebe spricht durch jedes Menschenherz hindurch, das sich ihr öffnen will: ‘Jeder Tag ist mein Tag und jede Stunde ist meine Stunde. Für mich und für alle, die mit mir leben wollen, gibt es nicht Sonntage und Werktage. Jeder Tag ist ein Tag der Werke, jeder ein Tag der Sonne, der Inneren Sonne, des Aufschwungs der Herzen zu mir.

Mag der Staat den Wechsel von Tagen der äußeren Arbeit und der äußeren Arbeitsruhe regeln. Diese Ordnung gehört der äußeren Welt an. Aber niemals wieder sollen der Allgemeinheit Feiern religiöser Bedeutung aufgezwungen werden. Meine wahren Freunde finden solche Feier-Tage oder Feierstunden in keinem Kalender. Sie brechen irgendwann - kein Mensch weiß sie vorher - aus den Herzen auf. Denn der Geist weht, wo und wann er will. Für die Allgemeinheit aber wird Ostern ein Frühlingsfest und Weihnachten das Fest der Mutterliebe sein. Der Aufbruch des Mai und die Sonnenwende, die Freude des hohen Sommers und die Erntezeit mögen ihr Anlass zu weiteren Festen sein, an denen sich jeder freuen kann, zu Festen der irdischen Welt, denen jeder seine eigene Seelenprägung geben wird. Komm nun mit mir, da droben über den Wiesenhängen will ich dir noch etwas sagen.’

Oben am Waldrand verhielten sie den Schritt. ‘Sieh, Winfried, alles umher ist Morgenlicht, Licht ewiger Jugend. Was dir deine äußeren Sinne als Gleichnis zeigen, das nimm dir in deinem Herzen ganz zu eigen. So nimm auch diesen Frühlingstag ganz in dich und lebe ihn von nun ab immer und überall. Dann hast du mehr vom Wesen Gottes erfasst, als du jemals erklügeln und ergrübeln könntest. Erlebe die Stimme, das Wehen deines Herzens als dein geliebtes Du: als Du, das immer wieder in den Augenblicken der inneren Vereinigung zu deinem eigenen Ich werden wird. Dann hast du jede Frage um das Ich des irdischen Menschen gelöst.

Über das DU führt der Weg zum ICH, und damit musst du in der irdischen Umwelt beginnen. Wenn du hier versagst oder auch im Bereich deiner irdischen Arbeit, deines Berufes, wirst du erst recht auf allen höheren Ebenen versagen. Sei getreu im Kleinen, im irdischen Alltag, in deinen Beziehungen zu befreundeten und geliebten Menschen, dann wirst du den Weg in das Große, in das Unendliche finden.

Und nun spreche ich ganz als Mensch zu dir, als dein ganz persönliches Du, aus meiner begrenzten irdischen Hülle heraus, zu dir als Frau. Jeder und jede, die sich innerlich mit mir einen wollen, können in meinem Namen ganz nach ihrer persönlichen Art ihrem geliebten Du dasselbe wie ich erfüllen: ich will dein sein für immer. Ich will dir Heimat und Seligkeit, ich will dir jede Erfüllung sein. Ich will dich tragen und führen, wie du mich tragen und führen sollst, jeder in dem Bereich, wie er dem Manne und der Frau zugewiesen ist.

Nun denke nicht viel an äußere Formen. Ich will keine Feier in der Allgemeinheit. Du und ich werden allein sein in der Stille deines Hauses. Sorge für zwei Ringe als einziges äußeres Zeichen unserer Lebensgemeinschaft, als Hilfe zur Treue im Alltag. Zwei schmale goldene oder silberne Ringe mit einem Amethyst darin. Es wird Abend sein, für unsere Herzen wird es Weihnachten, Heiliger Abend sein. Eine einzige brennende Kerze wird auf dem Tische stehen und du magst Blumen dazustellen. Und dein Wort und mein Wort, mein Versprechen und dein Versprechen: Immerwährende Liebe und Treue. Nichts anderes. Der Staat mag dann unsere Lebensgemeinschaft in seine Bücher schreiben. Mehr steht der Allgemeinheit nicht zu. Lass es nun in dir und um dich Morgen und Frühling sein, aus der Fülle des Herzens, die keine Nacht, keine Sommermüdigkeit, keinen Herbstverfall, keine Erstarrung des Winters kennt.’

HELFEN UND HEILEN

Winfried stand mit seiner Frau im Behandlungszimmer. Die Sprechstunde war eben vorbei und heute wartete keine Berufsarbeit mehr auf ihn. ‘Ich weiß, dass du bedrückt und unzufrieden bist, und ich weiß auch warum’, wandte sich Maria an ihn. Er hatte schweigend aus dem Fenster gesehen. Nun kehrte er sich ihr zu und wies auf seinen Arzneimittelschrank. ‘Den nenne ich ‘Ut aliquid fiat’, ‘Damit irgend etwas geschehe’. Wenn die Kranken nicht Tropfen oder Tabletten oder Einspritzungen erhalten, glauben sie umsonst gekommen zu sein. Aber woher das törichte Vertrauen zu diesen Mitteln, die so selten wirklich zu helfen vermögen? Alle paar Jahre folgt die ärztliche Wissenschaft einer anderen Mode und die jeweils herrschende soll die allein richtige und seligmachende sein.’

‘Du könntest ganz anders heilen, wenn die Menschen nicht allgemein so eingestellt wären, dass sie nur dem Handgreiflichen, Wägbaren und Messbaren Vertrauen schenken, das Unwägbare, das eigentlich Wirksame aber missachten. Es gäbe für keinen Arzt, der aus dem Herzen heraus lebt und wirkt, unheilbare Krankheiten, unstillbare Schmerzen und Leiden körperlicher oder seelischer Art. Die Menschen verlangen das äußerlich Sichtbare, physikalisch oder chemisch Erklärbare und ihnen deshalb Vertrauenswürdige. Sie verlangen das unbewusst fast alle so, auch wenn sie in ihrem äußeren Bewusstsein anderer Einstellung zu sein scheinen. Es bleibt dir vorläufig nichts anderes übrig, als dich an die jeweils geltenden Regeln der ärztlichen Wissenschaft zu halten, deinen Arzneischrank abgabebereit und dein chirurgisches Besteck scharf zu bewahren.

Darüber hinaus aber sollst du vom Herzen helfen wollen, einfach helfen und heilen wollen. Der Kranke, der dies innerlich annimmt, der dir im innersten Herzen vertraut, wird geheilt werden, auch wenn hundert Professoren sich einig wären, dass sein Fall hoffnungslos sei. Es gibt keinerlei materielle Grenzen für die Heilkraft Gottes, die jeder aus seinem Herzen heraus wirken lassen könnte. Es gibt dafür nur eine Grenze: Die innere Bereitschaft des Kranken selbst, seine Krankheit mit ihrem verborgenen Lustgewinn loszulassen und geheilt werden zu wollen, es sei denn, dass er diese Krankheit zugunsten anderer trägt. Und diese innere Bereitschaft kann der Kranke nur aufbringen, wenn er seinem Arzt voll vertraut.’

‘Ich hatte selbst schon oft, wenn mir die Heilung eines Kranken gelang, den lebhaften Eindruck, ja fast die Überzeugung, dass die Heilung nicht dem Mittel zuzuschreiben war, das ich anwandte, sondern dass sie verborgenen Quellen entsprang. Die sorgfältige Auswahl des Mittels stärkt vielleicht bloß das Selbstvertrauen des Arztes und das Vertrauen des Kranken zu ihm und fördert auf diesem seltsamen Umweg die eigentliche Heilung. Darum wird man, wie du schon sagtest, entsprechend der allgemeinen Einstellung der Menschen auch dieser Möglichkeit der Heilhilfe gerecht werden müssen. Wie sollen wir aber mit solchen Erkenntnissen, die fast jedem Arzt mit einiger Lebenserfahrung deutlich werden, die Achtung vor unserem Beruf bewahren, die doch nötig ist, wenn wir überhaupt helfen sollen? Eigentlich deshalb war ich vorhin bedrückt.’

‘Nur ein gesunder Leib kann der Seele eine Heimat sein. In deinem Beruf tust du das Größte, was Menschen für andere tun können. Helfen und heilen: Wiederaufbau einer zerstörten Heimat, die ein Gleichnis, eine Brücke zur ewigen Heimat ist.

LEITFADEN

Eines Abends saß der Lehrer Ludolf im Wohnzimmer des Arzthauses. Winfried und Ludolf hatten bisher nicht viel miteinander anzufangen gewusst. Nun hatten sie vorsichtig jeder des anderen Seele auszuloten versucht. Maria saß wie unbeteiligt neben ihnen. ‘Wie sind Sie mit dem Wechsel in Ihrem Personal zufrieden?’ wandte sich Ludolf plötzlich an Winfried. Der lächelte: ‘Meine frühere Sprechstundenhelferin hat ihre Arbeit recht ungern getan und war froh, einen Anlass zu finden, sie aufzugeben. Meine Frau kann es auch unvergleichlich besser. Oft habe ich die Empfindung, sie sei eigentlich der Arzt und ich ihr Helfer.’

‘Ihre Frau hat sich auch drunten im Dorf eine seltsam starke Stellung geschaffen. Schwerkranke und Sterbende verlangen nach ihr und alles wird ihnen dann leicht. Und auch sonst: Schwierigkeiten in der Erziehung, im Beruf, in der Ehe, alles tragen die Menschen zu ihr. Werden Sie nicht manchmal eifersüchtig?’

‘Ihre Freuden sind auch meine Freuden’, sagte Winfried ernst, ‘und ihre Lasten sind meine Lasten. Übrigens habe ich wenigstens in einem Punkte einen Vorsprung vor ihr, den sie nie einholen wird.’ Maria lächelte. Ludolf aber forschte begierig: ‘Und das wäre?’ ‘Ich habe eine ganz wunderbare Frau!’

‘Es wird Zeit’, sagte Maria, ‘dass ich euch auf andere Gedanken bringe. Sie, lieber Ludolf, waren doch bisher so unzufrieden, wie übrigens früher auch Winfried. In Ihrem Beruf könnten Sie - in aller Stille - viel mehr als bis jetzt leisten und dabei trotzdem und deswegen freier und glücklicher sein.

‘Ach’, sagte Ludolf, ‘mit welcher Begeisterung begann ich als junger Mensch meine Berufsarbeit. Aber schließlich stirbt jeder Aufschwung an den Enttäuschungen. Es gibt so wenig Schüler, die unsere Mühe mit ihnen lohnen. Und an der Verbitterung über so manche Zurücksetzung in Beruf und Leben und überhaupt in der Tretmühle des Alltags.’

‘Man sollte nie ehrgeizig sein’, sagte Maria leise, ‘man sollte nicht zuviel nach der Meinung der Leute fragen - und man sollte nie herrschen, beherrschen wollen. Das vor allem führt unausbleiblich zu Enttäuschung, Verbitterung und schließlich zu Zermürbung. Ein Lehrer sollte sein wie ein Gärtner, der jeder Blume und jedem Baum zur freien Entfaltung in die Sonne des Lebens hilft und nur den Misswuchs beschneidet. Entwicklungshilfe für alle jungen Menschen, die sich helfen lassen wollen, heimführen zu sich selbst, zur Inneren Sonne, über die Bindung an die Lebenswelt, an einen Freund als Vorbereitung für die Geschlechterliebe und Ehe.

Mit wenigen Worten und durch das Vorbild der eigenen Lebensgestaltung kann das geschehen neben der Arbeit des Lehrers, die von der Welt allein wichtig genommen wird: neben der Arbeit an der Verstandesbildung, neben der Vermittlung des teils notwendigen, teils überflüssigen irdischen Wissens. Überall fließen Quellen, die Sie jung und froh erhalten können, aus Freundschaft und Liebe, aus der Bindung an die gesamte Lebenswelt, an Sterne, Pflanzen und Tiere, aus Wissenschaft, Dichtung und den Darstellenden Künsten. Sie haben Bücher und Rundfunk, Sterne, Wälder und Wiesen. Wie kann einer das Kunststück zuwegebringen, trotzdem alt und verdrossen zu werden, gehetzt oder teilnahmslos, verbittert oder zynisch? Lieber Ludolf, lieber Dorfschullehrer, Sie haben wie mein Mann, der Landarzt, ein glückliches Los gewählt, das nur den Schwachen, Ehrgeizigen oder Trägen unbefriedigt lässt.’

‘Ich will mir’s zu Herzen nehmen’ sagte Ludolf, ‘und das meine ich so, wie ich es sage. Ich hätte aber erwartet, dass Sie mir, Ihrer Einstellung entsprechend, mehr von religiösen Dingen reden würden.’

Maria nahm seine Hände in die ihren. ‘Ich spreche ja dauernd davon’ sagte sie ernst. ‘Es sind die Anfangsgründe des Höheren Lebens, die ich Sie zu beherzigen bat. Wer im irdischen Alltag, in seinem Beruf und in den Beziehungen zu seinen nächsten Freunden und Anvertrauten versagt, wird erst recht auf den höheren Ebenen des Lebens versagen. ‘Sei getreu im Kleinen’ und ‘Wirket, solange es Tag ist!’

DAS HERZ

Winfried und Maria saßen in ihrem Garten, zwischen blühenden Rosen und Jasmin. ‘Du sagtest mir einmal’ begann er nach einer Weile des Schweigens, ‘ich solle mein Herz als den Sitz meines göttlichen DU empfinden, das in Augenblicken der Entrückung aus dem Irdischen zu meinem eigenen ICH wird. Dann spricht Gott selbst sein ‘DU BIST ICH UND ICH BIN DU’. Der Beitrag des irdischen Menschen zu dieser unendlichen Glückserfüllung ist schrankenloses Vertrauen zu seinem göttlichen Du, das in seinem eigenen Herzen lebt und wirkt. Durch dich, durch mein Vertrauen zu dir erlebe ich immer wieder die Wahrheit dieser Worte. Früher dachte ich anders. Da war mir mein Kopf das edelste und wichtigste Organ meines Leibes. Damals suchte ich freilich vergebens nach den Schlüsseln zum Höheren Leben und konnte nicht verstehen, warum es trotz allem in mir und um mich dunkel blieb.’

‘Hie Kopf, hie Herz’ sagte Maria. ‘An diesem Zwiespalt kranken noch fast alle Menschen. Darf ich dir eine anatomische Vorlesung halten, ja, mitten in diesem Blütenzauber. Sie wird ganz anders sein, als du es erwartest. Für den Wissenschaftler, der heute schon fast ausschließlich die Wertungen der Menschheit prägt, ist der Kopf, genauer gesagt das Gehirn das edelste, der Beachtung und Forschung würdigste Organ. (Mund und Augen sind Ausdrucksorgane des Herzens, Augen und Ohren als Eindrucksorgane dienen wie der Tastsinn Kopf und Herz zugleich).

Das Herz ist ihm nichts weiter als ein Hohlmuskel, dessen Tätigkeit vom Gehirn gesteuert wird. Für den physisch-körperlichen Bereich hat er recht. Im Seelenbereich, dem doch auch der Wissenschaftler sein seelisches Leben verdankt, seine Fähigkeit zu fühlen, zu denken, zu sprechen, zu handeln, liegen die Verhältnisse umgekehrt. Das übersinnliche Organ der Herzmitte, das seinen Sitz im körperlichen Herzen und seinem Umkreis hat - dessen physischer Ausdruck also das körperliche Herz ist - übertrifft in seiner Feinheit und Vielfalt unendlich weit auch das entwickeltste Gehirn mit seinem tagesbewussten Seelenbereich. Warum ist aber die physische Entsprechung des Wunderreiches der Herzmitte ein einfacher Hohlmuskel, zwar sinnvoll aufgebaut, jedoch dem Gehirn gegenüber fast ärmlich anmutend?

Wäre das körperliche Herz auch nur annähernd so kostbar in seiner physischen Ausgestaltung wie das Gehirn - es wäre auch dann noch längst keine wirkliche Entsprechung zum Wunder der Herzmitte - so würde es nicht fünf Minuten lang seinen Dienst am ganzen Körper, auch am Gehirn versehen können. Denn die Menschen drängen alles ihrem Bewusstsein Widrige, Lebensfeindliche aus ihrem Gehirnbereich fort und dem Herzen zu. Alles, was sie an irdischen Gedanken und Gefühlen in ihrem tagesbewussten Bereich nicht haben wollen, weil es ihr Behagen, ihre Selbstzufriedenheit, ihren Geltungshunger stört, treiben sie in den Herzbereich und damit auf die übersinnlichen Ebenen, dem irdischen Anteil Gottes zu. Es ist ja so einfach, andere für sich arbeiten zu lassen und ihnen dann zum Dank noch alle selbstverschuldeten Irrtümer und Qualen anzulasten.

Das Gehirn ist nichts weiter als eine Umform- und Umschaltstelle, die dem tagesbewussten Denken und Erleben einen winzigen Ausschnitt aus der unendlichen Fülle des Lebens vermittelt. Das Gehirn oder der Verstand (die Ratio, die Vernunft) verdient nicht die fast mystische Verehrung, die ihm die Torheit der Menschen widmet. Das Herz trägt alle Last des körperlichen und seelischen Lebens und ist auch die Quelle der Kraft zum Denken und Fühlen, die Quelle jeder Freude, jeder Seligkeit.

Ich gebe dir wieder einen Schlüssel zu den höheren Bereichen des Lebens: Liebe dein Herz als deinen besten Freund, als deine dich tragende Mutter und als deinen dich führenden Vater, als den Sitz und die Stimme Gottes selbst! So sollte der Kopf, das tagesbewusste irdische Ich des Menschen, seinem Herzen gegenüber eingestellt sein. Der Kopf bist du selbst im irdischen Sinn. Das Herz kannst du selbst sein aus deiner Einheit mit Gott heraus. Dieser Weg zum geistigen ICH führt aber nur über das DU, über ein irdisches DU, das zu deinem geistigen DU werden kann, wenn du in ihm, als einem irdischen Gleichnis, das unendliche Herz Gottes erkennst.

‘Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart’: Aus dem irdischen Menschenherzen blüht die Unendliche Liebe Gottes gestalthaft empor bis zu des Menschen Haupt. Wer hier nicht eine Falschmünzerwerkstätte betreiben will, die Blei als Gold und Gold als Blei prägt (so tun es sehr viele Menschen in ihrem seelischen Leben), wer nicht die führende und tragende Mitte den ausführenden Organen unterordnen will (es sollte sich niemand wundern, wenn dann der Weg in den Abgrund führt), der wende der Wurzel und der Rose, die aus ihr entspringt, seine Liebe und Verehrung zu, nicht dem Dornengestrüpp seines selbständig gewordenen Gehirns und den von ihm erfundenen ‘Denkgesetzen’ und ‘Wahrscheinlichkeiten’.

‘Es ist ein Ros entsprungen mitten im kalten Winter’: Immer wieder, unbesiegbar blüht das Wunderreich der Herzmitte, die blühende Fülle Gottes, die Rosen des Königs und der Königin, mitten im Frost der erstarrten und fast schon erstorbenen Menschenherzen, mitten in der Winternacht ihres seelischen Lebens, das sich das Gehirn zum Führer und Richter des Ganzen wählte. Wer dabei verharrt, wird sterben für immer. Für das Weltganze aber und in den Menschen guten Willens wird die Rose siegen über Frost und Dornengerank.’

BERGENDER SCHOSS UND HEIMAT

Winfried kam mit Maria von einem Abendgang durch den Herbstwald nach Hause. Noch standen vor seinen Augen der goldrote Mantel der Buchen und Eichen in der Verklärung des Sonnenuntergangs, die zur Heimkehr mahnenden Schatten der Dämmerung und der Sternenmantel über Baumkronen und Bergen, ein Gleichnis der ewigen Jugend des Alls.

‘Maria’, sagte er leise, ‘erst durch dich kann ich wieder alles Lebendige lieben, und die Liebe wird immer schöner und tiefer. Nie war der Wald und der Sternenhimmel so unsagbar weit und verheißungsvoll. Und du selbst, je mehr ich dir vertraue, wirst immer mehr lichtblauer Morgenhimmel und Sonnenleuchten und Sternennacht in einem.’

‘Und doch quält dich noch etwas, ein irdisches Missverständnis. Du wolltest es mir nie sagen. Aber ich weiß es jenseits aller Worte, wie auch alles andere, von dem ich dir später sprechen will:

Warum ist das irdische Geschlechtsleben nicht in allem ebenso rein und unanfechtbar wie Sonnenaufgang und Sternenhimmel? Warum sind die Organe der Zeugung und Empfängnis nicht ebenso schön wie Auge und Mund? Sie könnten es sein. Der ganze Menschenleib könnte in verklärter Schönheit leuchten, durchsichtig rein wie ein Rosenblatt. Die Menschheit als Ganzes aber - und in seinem Unterbewusstsein ist niemand davon frei - hatte immer Angst vor den Geheimnissen des Lebens, besonders vor dem Bereich des Werdens neuen Lebens. Ihre Antwort auf diese Angst, auf diesen Mangel an Vertrauen gegenüber dem Schöpfer der Welt, war die Sucht, das Lebendige zu entwerten, es möglichst anfechtbar, ja lächerlich zu machen, um trotz dieser Angst rücksichtslos genießen und sich ausleben zu können.

Dieser Einstellung entsprechend prägte die weiterentwickelte Lebenswelt bis zum Menschen herauf ihre physisch-körperliche Erscheinung weitgehend um, besonders im Bereich der Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane. Die göttliche Weltführung jedoch beschränkte die Auswirkung dieses Willens zum Entwerten, zum Herabziehen auf die materielle Welt. Schon im Ätherleib, der dem Kreislauf des lebendigen Blutes entspricht, also auf der niedrigsten übersinnlichen Ebene, leuchten die Organe des Körpers ohne Ausnahme in unantastbarer Reinheit. Das sollte für das seelische Erleben, für das der Ätherleib, nicht der materielle Leib maßgebend ist, vollauf genügen, um alle Gedanken an eine innere Unschönheit oder Unreinheit besonders der Organe der Zeugung und Empfängnis als unwahr aufzulösen.

Wer entwerten, herabziehen, entwürdigen will, muss sein Erleben, Denken und Handeln auf die äußere, materielle Welt beschränken. Er sieht und erkennt nichts anderes mehr. Wer aber seinen Leib als einen Tempel seines Herzens und des Ewigen Lichtes in ihm bejaht, wird zwar den Sinnentrug der materiellen, grobkörperlichen Erscheinung nicht leugnen. Er wird ihn aber als unwesentlich erkennen gegenüber dem strahlend reinen inneren Leben, das den Menschen guten Willens auch aus der äußeren körperlichen Erscheinung als Ahnung einer unantastbaren Schönheit entgegenleuchtet. Er hält auch seinen materiellen Leib sauber, gestrafft und rein. Alles andere, was derzeit nicht in seine Macht gegeben ist, erkennt er als unwesentlich gegenüber der Ahnung oder Gewissheit des Höheren Lebens in ihm, an das keine Verzerrung oder Entwürdigung herankommt.

Und noch eins: Du, Winfried, hast das immer aus der Einsicht deines Herzens heraus so gelebt. Die Geschlechterliebe mit ihren körperlichen Erlebnissen ist nur dann rein, wenn der Mann die geliebte Frau in allem Sturm des Blutes zugleich als bergende Heimat empfindet, die sich verschenken, aber nicht in roher oder lüsterner Gier bezwungen werden will. Die Frau, soferne sie innerlich Frau ist und nicht männisch-gierig fordernd wurde, wird schon aus ihrem inneren Wesen heraus nur eine solche Einstellung des Mannes und ihrer selbst bejahen können, wie auch Gott nur diese Liebe segnet. Wer anders sein will, sei es. Er entfernt sich damit von der göttlichen Liebe. Zurückkehren kann er jederzeit. Nur der Heuchler ist für immer aus dem inneren Bereich des Lebens ausgeschlossen und lebt mit seinem materiellen Leib auch sein inneres Leben endgültig zu Ende.

Bergender Schoß und Heimat: Wenn zwei Liebende das bejahen, wächst ihre Liebe von der niedrigsten Ebene des Lebens bis hinauf zur höchsten, und die innere Rose ihres Herzens wird nicht entblättert werden.’

MISSTRAUEN UND FEIGHEIT

Eines Abends kam Winfried bedrückt von einem Krankenbesuch nach Hause. ‘Maria, du sagtest mit Recht: ,Liebe dein Herz als deinen besten Freund’- Das ist ein Schlüssel zum Höheren Leben. Und ich habe es immer überzeugender erlebt: Herz, Heimat, Geheimnis, ewiger Frühling, Innere Sonne, Ewiges Licht gehören zusammen. Man muss nur den Mut aufbringen, die Selbstsucht, das kalte Misstrauen, die Zweifelsucht gegenüber dem Höheren Leben jenseits der äußeren Sinneserfahrungen zu überwinden und die Selbstherrlichkeit, die Selbständigkeit der Gehirnsphäre als Schein zu erkennen. Immer weiter, tiefer und leuchtender wird dann das Leben. Und es wird zur inneren Gewissheit: Mitten in meiner Brust, in einem für alles Niedrige unzugänglichen Leuchten, lebt und wirkt mein ewiges DU, Du selbst, als Unendlichkeit. Du stehst neben mir als Menschengestalt und lebst in mir als tragende und führende Macht meiner selbst und des Ganzen. Eine Ahnung von diesem Erlebnis könnten jeder und jede erfahren, wenn sie zu ihrem Geliebten sagen: ,Du, meine Seele, Du, mein Herz...’. Dann wächst dieses Du über die menschliche Begrenzung hinaus und Du selbst leuchtest in ihnen auf.

Bedrückt bin ich aus einem anderen Grunde. Eben war ich bei einer Kranken mit einer schweren Herzmuskelschädigung. Wie soll ich diese Kranke von ihrem scheinbar wohlbegründeten Misstrauen gegenüber ihrem besten Freund, gegenüber ihrem Herzen heilen?’

‘Ich sagte ja nicht: Liebe deinen Herzmuskel als deinen besten Freund. Das physische Herz ist ja nur das Werkzeug des Großen Freundes, mit dem er im Körper wirkt, solange und soweit es der Mensch selbst möglich macht. Diese Kranke schädigt ständig durch ihre Angst, ihre Gehetztheit und schwächliches Misstrauen gegenüber den Quellen des Lebens die körperliche Grundlage ihres irdischen Lebens, das sie anderseits so hoch schätzt, dass sie in ständiger Angst darum lebt.

So viele Menschen erschüttern und untergraben ohne Unterlass die tragenden Pfeiler ihres irdischen Hauses. Sie wundern sich dann noch und klagen Gott und die Welt an, wenn der Bau schwankt und einzustürzen droht. Nicht das kranke Herz, der kranke Herzmuskel oder gar die übersinnliche Herzmitte erzeugt das Angstgift zur Zerstörung seiner selbst - jede Angst stammt aus der Gehirnsphäre - sondern der Mensch drängt die Fehleinstellungen, die giftigen Schwaden seines bewussten Denkens und Fühlens seinem Herzen auf. Keine Wunde heilt, wenn sie ständig wieder aufgerissen und verunreinigt wird. Mögen der Herzmuskel oder die Herzklappen, die Reizleitung oder sonst irgend etwas in seinem Bereich geschädigt sein: Alles das wird genau in dem Maße wiederhergestellt werden, als der Mensch dem Großen DU in seiner Herzmitte vertraut. Denn Gott drängt sich nicht auf. Gott wirkt nur, wenn der Mensch dazu Ja sagt!’

Winfried sann nach: ‘Ich sehe das selbst immer klarer. So viele Menschen sagen zu ihrem Arzt oder in ihrem inneren Leben zu Gott: Heile mich, aber lass mir alle meine schlechten Gewohnheiten. Lass mich weiterhin Gift denken und fühlen, lass mich weiterhin durch meine Lebensweise im Denken, Fühlen und Handeln meine Seele und meinen Körper verwüsten, denn das bietet mir hohen Genuss. Nur krank will ich nicht sein. Als ob ein Mensch sagen würde: Ich will morden, aber mein Opfer soll sich trotzdem seines irdischen Lebens freuen können. Oder: Ich will Stück um Stück mein Haus einreißen, und will dennoch sicher vor Sturm und Regen in diesem Hause wohnen bleiben.’

‘Ja, es ist buchstäblich so. Viele würden dazu sagen: Die Dummheit der Menschen ist eben nicht auszurotten, oder: Gegen die Dummheit kämpfen die Götter selbst vergebens. Aber die Götter, die Teilkräfte Gottes kämpfen nicht gegen die Dummheit. Wenn sie es täten, wäre es freilich vergebens. Denn die Dummheit ist kein Feind, sie ist nur eine Maske, hinter der sich der eigentliche Feind verbirgt: Die Feigheit, das absichtliche Nicht-sehen-wollen einer Wahrheit. Jedem Wesen ist genug Einsicht mitgegeben, dass es auf seinem Platz das Richtige tun kann. Wenn es den falschen Platz wählt oder auf seinem richtigen Platz das Unrichtige tut, darf es nicht Dummheit, sondern seine Feigheit, sein absichtliches Blind- und Taubsein gegenüber der Wahrheit dafür verantwortlich machen.

Jedem Wesen ohne Ausnahme wird in der Außenwelt und auch auf den übersinnlichen Ebenen immer wieder gezeigt, wie sich ein Beginnen, das es sich vorgenommen hat, in der Zukunft auswirken wird. Nur wenige lassen sich vor verfehlten Plänen warnen. Die allermeisten sagen: ‘Wir verstehen es besser als Du, wir wollen von dir nicht gewarnt sein’ Oder: ‘Was, das soll verfehlt sein? Wir glauben dir nicht!’ Wenn dann ihr Unternehmen gescheitert ist, dann versteigen sich so manche zum dreisten Vorwurf: ‘Herr, das haben wir nicht gewollt. Wir wollten wohl das Haus einreißen, aber unser Wille war doch, dass es dabei ganz und heil bleiben sollte. Du hättest uns warnen müssen!’

Das wiederholt sich seit dem Anbeginn der Welt bis heute in immer neuen Formen. Die innere Haltung der Verblendeten ist immer: Sowohl - als auch. Das eine tun und das andere nicht lassen können. Hass säen und Liebe ernten. Gift trinken und dabei gesund bleiben. Sich alt machen und dabei jung bleiben. Sich selbst belügen und betrügen und dabei trotzdem in der Wahrheit leben. Das Leben herabziehen und schänden und dabei trotzdem ein Freund Gottes bleiben. Gott, das Leben, in seinem irdischen Anteil zu Tode quälen und trotzdem zu den Höhen des göttlichen Lebens aufsteigen.

Ständiges Misstrauen, unaufhörliche Vorwürfe, und trotzdem immer neue Forderungen nach Rat und Hilfe im Kleinsten und Größten. Dreistes Besser-wissen-wollen, Hohn, abwechselnd mit winselnder Feigheit und schmarotzerhaftem Anklammern: das kennzeichnet die innere Haltung sehr vieler Menschen. In dieser Lebensluft lebt Gott auf der Welt und hat jede Sekunde Gelegenheit, seine Unendliche Liebe zu beweisen. Weil sie aber die Menschen ‘zwingend’ bewiesen sehen wollen und ihr zu diesem Zweck ständig ihren höchsten Willen entgegensetzen, an dem sich die Macht der Unendlichen Liebe als Zwang zum Gutsein, als Herrschaft über den Willen anderer beweisen soll, kann sich Gottes Unendliche Liebe nicht auswirken in der Welt. Denn Gott will niemand zwingen, Gott will niemand unfrei machen. Wer böse sein will, darf und soll es sein. Die Welt läuft ihm nach, solange er stark scheint. Wenn er schwach geworden ist, weil er gegen das ewige Leben frevelt, wirft sich die Welt auf ihn - er hat ja nur noch seinen irdischen Anteil, nichts Seelisches oder gar Geistiges mehr zu eigen - und vernichtet ihn für immer.

An ihrer Haltung gegenüber ihrem eigenen Herzen, in dem Das Leben, in dem Gott selbst wohnt und fast überall leidet (es wäre denkbar, dass sich Gott in ihnen auch freuen könnte), entscheiden sich die Menschen. Soll das Gehirn ausführendes Organ, oder Führer und Richter des Ganzen sein? Wer seinen Glauben und sein Vertrauen zur göttlichen Wahrheit vom Ja oder Nein seines Gehirnverstandes - seiner ‘Ratio’, fälschlich ‘Vernunft’ genannt - abhängig macht, wird mit diesem Gehirn zugrunde gehen. Denn das Gehirn, sein Führer im Erdenleben, verliert seine Fähigkeit zum Rechnen, Messen und Wägen an der Schwelle des irdischen Todes. Es ist dann zu spät, nach einem besseren Führer zu suchen. Für die Götzendiener des Gehirns ist der irdische Tod nicht die goldene Brücke zu höheren Bereichen des Lebens. Er ist für sie der Abgrund der völligen Auflösung, der Abgrund des Nichts, dem sie im irdischen Leben dienten.’

DU

Die Dämmerung sank herab. Es war Weihnachtsabend. Winfried saß am Fenster seines Arbeitszimmers. Vor ihm stand ein Korb mit weißen, roten und veilchenfarbenen Hyazinthen, goldenen Narzissen und apfelblütenfarbenen Tulpen, die sich aus Erde und Moos in das sanfte Dämmerlicht hoben, ein Frühlingsleuchten in der beginnenden Winternacht. Schwer lastete draußen im Garten der Schnee über Strauch und Baum. Winfrieds Blick ging über das verborgene Leben im Garten hin, dann senkte er sich wieder auf die Blumen.

‘Überall leuchtet mir die Weltseele entgegen’, sann er, ‘aus allem, was zart und rein und irgendwie wehrlos ist. Darum ist wohl auch die echte, wahre Frau die Krone der Schöpfung. Wie sehr ich mich jetzt auch an aller äußeren Erscheinung des Lebens, an Farben und Gestalten, am Hauch der Blumen und am Schimmer des irdischen Lichtes, an Woge, Wind und Gewitter, Winternacht und Sommerseligkeit freuen kann, bin ich doch doppelt froh zu wissen, dass die eigentliche Schönheit, das wirklich Große, Unvergängliche erst jenseits der äußeren Formen lebt; unzugänglich, unerreichbar für Erniedrigung und Zerstörung. Die Ewigkeit in der Zeit, das Unvergängliche mitten im Vergänglichen: Erst die Seele, die das erlebt und weiß, hat ihre ewige Heimat gefunden.’

Maria kam heran, wie innerlich von ihm gerufen. Er sah zu ihr auf. ‘Heute, am Heiligen Abend muss ich dir wieder sagen, wie anders mein Leben durch dich geworden ist. Es war ein Korb mit Erde, eine schwere Last und doch arm an Bedeutung, inhaltsleer. Nun steht eine Blütenfülle darüber. Du, meine geliebte Frau und Mutter, du stille, du heilige Nacht und du Morgenleuchte, du Frühlingshauch. Und in aller Stille die königlichste Führungsmacht. DU!

Wenn die Menschen begreifen würden, welche Himmelsleiter dieses Wort ‘DU’ sein kann! Und in seinem Herzen könnte es der auf Erden Einsamste finden. Denn DU verweigerst dich niemand. Du gehst mit deinen Kindern und für sie, an ihrer Stelle, durch alle Höllen und würdest sie, wenn sie nur wollten, in alle Himmel tragen. Du Geheimnis des Herzens, dem nichts Irdisches fremd ist, dem keine Last zu schwer, kein Weg zu weit, keine Zeit zu lange ist. Du, das Herz alles Lebendigen, das unendlich weit über alle menschliche, alle irdische Begrenzung hinausführt, das im Mann, in der Frau, in Kindern lebt, in Tieren, Bäumen und Blumen, in Welle und Wind und Wolke, in Tau und Regen und in den Sternen, als Seele der unendlichen Welt.

Stille Nacht, Heilige Nacht, heilige Ahnung des Unendlichen, die zum Schauen in unermessliche Weiten wird, in die unendlichen Wogen eines jenseitigen Morgenlichts. Mitten drinnen im Brausen, im sanft leuchtenden Feuerfluten der Unendlichen Liebe, im Herzen Marias leben alle Menschen und Wesen. Sie sehen und hören nichts von ihm, von seiner jenseitigen Herrlichkeit, denn die Saiten ihrer Seelen sind zu tief gestimmt. Sie schwingen nur in den Staubstürmen der irdischen Welt, sie haben Angst vor dem undurchschaubaren Geheimnis der hell singenden und leuchtenden Himmelsströme. Sie haben Angst vor der stürmenden Sehnsucht, die sie aufrauschen und jubeln ließe im Jenseitslicht, mitten aus dem irdischen Alltag heraus.’

WAHRHEIT UND TRÄGHEIT

Winfried stand mit Maria am Fuße der Felswand über dem Waldhang und sah in das Tal hinab. ‘Wer das Lebendige, die eigentliche Wahrheit hinter dem oft trügerischen Schein der irdischen Welt sieht’, sagte er, ‘kann nie mehr in Missmut oder Verbitterung, in Hass, Wut oder Rachgier verfallen. All das wird ihm wesenlos, der kärglichen Oberfläche zugehörig. Warum erreicht aber fast niemand mehr diesen Blick in die Tiefen des Lebens, die bewusste Schau der inneren Lebenssphäre, der Ätherwelt. Und der Gedanken- und Gefühlswelt aller Wesen, der Seelen- oder Astralwelt, oder gar der geistigen Welt mit ihren noch gestalthaften und schon ins ewige Feuer hinüberreichenden unfassbaren Herrlichkeiten? Schon die niedrigste Ebene über der materiellen Außenwelt, die innere Lebenswelt, ist ein unerschöpfliches, immer neues und größeres Wunder.’

‘Du fragst: Warum?’ sagte Maria. ‘Du hast diese Frage schon selbst beantwortet. Weil dann Hass, Wut, Rachgier, Ehrgeiz, Herrschsucht, Besitzgier, Quälsucht, Betrug, Lüge wesenlos würden. Alle diese Schwaden der Hölle, von der primitivsten Selbstsucht bis zur teuflischen berechnenden Grausamkeit würden verwehen und sich auflösen vor der unermesslichen Freude des Schauens in die inneren Wunder des Lebens aller Ebenen bis hinauf zur höchsten. Wer wirklich hellsehen, hellhören, hellfühlen kann, steht vor dem Angesicht der Wahrheit, die zugleich unendliche Schönheit und unendliche Liebe ist. Alles Unechte in ihm, das er sich durch seine äußeren Sinneserfahrungen und vor allem durch seinen Verstand über das innere Wesen der Schöpfung, über das innere Wesen von Seele, Geist und Gott zurechtgereimt hat und festhält, müsste vor dem Angesicht der Wahrheit verlodern wie ein Bündel Stroh, das in die Weißglut eines Hochofens fällt.

Wer hindert den Menschen, alles zu sehen, die ganze Wahrheit, wenn nicht er selbst? Warum lässt er sich von der erbärmlichen Angst beherrschen, die Lust an seinen seichten Vergnügungen, an seinen Gedankenspielereien, an seinen kleinen Bosheiten, Lügen und Selbsttäuschungen zu verlieren, wenn er die Wahrheit sehen wollte und dadurch unermesslich Größeres gewinnen würde? Unverschuldeter Mangel an Einsicht, geistiges Unvermögen, Dummheit? Nein. Selbstgewollter Mangel an Mut, Bequemlichkeit, Trägheit, Feigheit verschließen ihm die Unendlichkeit des Lebens, das Hinauswachsen über Raum und Zeit, über den Schein der Maya, über Tod und Vergänglichkeit.

Kein Selbstbetrug, kein Trick, kein Mediumismus führt zum wirklichen Hellsehen, zum Schauen der höheren Ebenen der Welt. Nur ihre innere Einstellung gegenüber der Wahrheit müssten die Menschen ändern, dann öffnet sich mühelos das Tor in das unermessliche All. Ich gab ihnen schon längst den Schlüssel dazu in die Hand: Ich will die Wahrheit, wie sie auch sein mag! Ich will sie sehen ohne vorgefasste Meinungen, ohne Wunsch oder die Erwartung, dass die Wahrheit meiner bisherigen Einstellung entsprechen muss, weil ich sie sonst nicht als Wahrheit anerkenne. Ich will die Wahrheit sehen ohne die Scheuklappen meiner bisherigen Konfession oder Weltanschauung und ohne jede Rücksicht auf die ausgefahrenen Geleise meines bisherigen Gewohnheitsdenkens und -fühlens, von denen ich doch ehrlich zugeben müsste, dass ich innerlich längst über sie hinausgewachsen bin. Bisher bin ich aber meiner Konfession, meiner Weltanschauung, meinem Gewohnheitsdenken treu geblieben, aus ‘Pietät’, aus ‘Liebe zur Tradition’, aus ‘Achtung vor einer großen Vergangenheit’. Wollte ich ehrlich sein, müsste ich freilich sagen: Aus Denkträgheit, aus Menschenfurcht, aus der Feigheit heraus, nichts mehr lernen zu wollen, nicht mehr umdenken zu können, aus dem verfehlten Grundsatz heraus: Was früher, was tausend oder zweitausend Jahre oder auch einige Jahrzehnte oder Jahre galt, muss auch heute gelten. Was ich in meiner Jugend lernte, darf um keinen Preis umgestoßen werden. Was bisher mehr schlecht als recht meine ‘Lebensregel’, meine Lebensstütze war, will ich festhalten und auf keinen Fall gegen etwas Besseres eintauschen.

Der Wahrheit sollten die Menschen treu sein, nicht den verschlissenen Hüllen, die - immer inhaltsärmer - der Welt als Wahrheit angeboten oder aufgedrängt werden. Gewohnheit, Denkträgheit, Feigheit: Dieses Dreigestirn erleuchtet den Weg in den Abgrund. Es gibt Menschen, die lieber in verfallenden Ruinen hausen als in menschenwürdigen Wohnungen, denn sie sind eben diese Ruinen gewohnt. Es gibt Tiere, die - eben erst befreit - in ihren brennenden Stall zurücklaufen und in ihm verbrennen. Denn sie sind von je diesen Stall gewohnt und können sich kein anderes Obdach mehr vorstellen.

In ihrem inneren Leben, dessen Ausdruck Religion oder Weltanschauung sind, handeln genau so weitaus die meisten Menschen und Wesen. Es ist ihr Grundsatz, von Gott so wenig als nur irgend möglich anzunehmen. Sie wollen sich nichts schenken lassen. Das leidet ihr Hochmut, ihre Eitelkeit nicht. Sich diese Geschenke des Höheren Lebens auch nur irgendwie zu verdienen, ist bei ihrer inneren Einstellung aussichtslos. So klammern sie sich an alles, was die göttliche Weltführung ablehnt, weil es nur noch verschlissene Hülle ohne Inhalt, ohne wirklichen Lebenswert ist. Und alles, woran sich die Menschen klammern, wollen sie sich um keinen Preis nehmen lassen, und wenn es auch nur ein Strohhalm ist.

Gott bietet das Leben in schrankenloser Fülle an, von den irdischen Lebenswerten an bis hinauf zu den höchsten geistigen. Die allermeisten Menschen und Wesen wählen das Nichts, die Leere, das von Gott Verlassene, innerlich leblos Gewordene; das Erstarrte, Verkommene, Entartete, das innere Greisentum, die lichtlose Nacht statt ewiger Jugend, ewigen Morgenlichts…’

VERWALTEN UND HERRSCHEN

Maria ging durch ihren Garten. Wieder rief der erste Frühlingshauch die Bäume, Sträucher und Bodengewächse aus ihrer Winterstarrheit. Draußen kam Ludolf, der Lehrer vorbei. Sie rief ihn herein. ‘Ich trage schon lange eine Frage mit mir herum’, sagte er, ‘die mir bei meinem - ich muss es zugeben - oberflächlichen Lesen der Evangelien haften geblieben ist. Was ist Mammon?’

‘Mammon ist alles, was Macht, Herrschaft in den Augen der Welt bedeutet. Geld, irdischer Besitz jeder Art, Wissen und Können, eine Beamtenstellung, die Stellung in einer irdischen oder jenseitigen gedachten geistigen Hierarchie, Schlüsselstellungen, Macht-Positionen jeder Art können zum ,Mammon’, zum Götzen der Herrschgier werden. Niemals sind es die Dinge oder Gegebenheiten an sich. Sie können gut oder schlecht angewendet werden. Erst das Kleben an ihnen, ihre Erhöhung zum bestimmenden Lebenswert, dem sich alles andere, auch das Gewissen, die Ehrlichkeit, die Güte, die Liebe unterordnen soll, macht sie zum Mammon, zum teuflischen Widersacher des Lebens.

Wer ehrlich sein und seine Kräfte nicht sinnlos vergeuden will, kämpfe nicht gegen Geld oder Gold, Besitz und Macht an sich. Er kämpfe gegen die falsche Anwendung, den Missbrauch irdischer oder irdisch-geistiger Güter. Armut an sich ist kein Vorzug, keine Förderung des geistigen Lebens. Die Armut im Geiste ist es, das innere Losgelöstsein von allem Besitz, das Nicht-mehr-kleben an irdischen oder irdisch-geistigen Gütern, die innere Freiheit, alles loslassen zu können, wenn es die innere Führung will.

Verwalten, nicht besitzen im Sinne uneingeschränkten, niemand verantwortlichen Verfügungsrechtes. Was einer verwaltet, kann er lieben, denn er bleibt innerlich frei und nur der innerlich Freie kann lieben. Was einer zu besitzen wähnt, vergewaltigt er, denn er achtet die inneren Gesetze des Lebens nicht. Er könnte sonst nicht ‘besitzen’ wollen. Er wird nichts und niemandem mehr gerecht, weder Dingen noch Menschen, noch Gott. Die Welt rächt sich - auf lange Sicht gesehen - erbarmungslos an allen, die irgend etwas zu besitzen wähnen, sei es ihr Leib, seien es anvertraute Menschen oder Güter. Denn er wird dadurch unausbleiblich zum Feind der Welt, zum Feind des irdischen Lebens, ein Besitzer, ein Nutznießer, ein Schmarotzer.

Du kannst nichts wirklich besitzen. Das Leben, die ständige Erfahrung des Lebens, sagt Nein dazu. Der Wahn, irgend etwas als uneingeschränktes Eigentum zu betrachten, darüber nach Gutdünken verfügen zu dürfen, macht dich auf die Dauer zutiefst unglücklich und lebensschwach. Das aber beschwört jedes Unheil über dich herauf. Du kannst keinen Mann, keine Frau, kein Kind, kein Tier, kein Ding, keinen irdischen oder irdisch-geistigen Wert ‘besitzen’. Der Besitzwahn führt zum Sicherheits- und Machtwahn, zur Quelle aller irdischen und geistigen Verheerungen.

Verwalte deinen irdischen Leib, ohne an ihm zu kleben, verwalte das Leben der dir Anvertrauten, ohne ihnen Gewalt anzutun. Verwalte deine Wohnung, dein Haus, deinen Hof, deinen Garten, deine Felder, verwalte Millionen und Milliarden an irdischen Werten. Gott sagt Ja dazu, wenn du die Werte, die dir anvertraut wurden, zum Besten aller einsetzest.

Aus deinem Herzen strömen dir alle Möglichkeiten des Lebens in überreicher Fülle zu, alles, was dich im Irdischen, Seelischen und Geistigen glücklich machen kann. Um diese Möglichkeiten zu verwirklichen - sei es in der irdischen Außenwelt, im Seelischen oder im Geistigen, - brauchst du nur bedingungslos der Weisheit und Liebe der göttlichen Weltführung zu vertrauen, die auch das kleinste sieht und lenkt. Dieses Vertrauen ist eine innere Haltung, keine Bewährungsprobe für Gott: ‘Ich vertraue dir, falls sich dieses Vertrauen auch sogleich handgreiflich als nützlich erweist, so wie ich es erwarte’ (in meiner Torheit und Beschränktheit, müsste dieser Mensch hinzusetzen). Das ist kein Vertrauen. Das ist von vornherein ein Nein zu Gott und zu allen Möglichkeiten eines größeren Lebens, sei es im Irdischen oder Geistigen.

Wenn du dir Besitz oder Macht oder beides wünschst, oder seelische und geistige Geschenke, wie du sie dir gerade jetzt vorstellst: Weißt du, ob dich ihre Verwaltung auch glücklich machen würde, ob du ihr jetzt schon gewachsen wärest? Bist du schon oder überhaupt fähig, sie sinnvoll zu verwalten, dass sie dir und anderen zum Segen, nicht zum Fluch werden? Wenn du sie aber besitzen möchtest, würden sie dir mit tödlicher Sicherheit zum Unheil werden. Wer zu innerst - trotz allen Warnungen - Besitz oder Macht als Herrschaft will und dabei unbelehrbar verharrt, erhält diesen Willen unweigerlich erfüllt. Wegen der späteren Folgen müsste er sich dann freilich selbst anklagen. Wer krank und elend sein will, kann es sein. Wer sich selbst zerstören will, kann es tun. Einem solchen Menschen oder Wesen ist die innere Feindschaft gegen Gott, gegen das Leben, mehr wert - weil er so Gott in seinem irdischen Anteil quälen kann.

Wer Gott in seinem irdischen Wirken und dadurch allen Menschen und Wesen helfen will, der tue zuallererst eines: Er wage es, glücklich sein zu wollen. Er schaffe Frieden mit seinem Gewissen. Er soll nicht mehr tun wollen, als ihm gegenwärtig und in seinem Bereich ohne Unrast, ohne Hetze zu tun möglich ist. Für eine solche Unrast ist verkappter Ehrgeiz oder verfehlte Anwendung seiner Kräfte die Triebfeder. Er werde zuerst den Forderungen seiner Umwelt, seines Berufes und des irdischen Alltags gerecht. Er schaffe sich Freude, und sei es in den kleinsten Dingen. Er gebe die unheilvolle Neigung zu Selbstquälereien, zur Selbstverspottung, zu Herabwürdigung seines Leibes und seiner Seele auf. Damit trifft er sein Herz, seine Lebensmitte, und damit Gott in seinem irdischen Anteil. Für ihn als irdischen Menschen sind diese ‘Selbstquälereien’, diese Selbstverspottung und Herabwürdigung Lust, sonst würde er es nicht tun, auch wenn er sich vortäuscht, dass er dabei Qualen leide. Gott trägt diese Qual. Der Mensch aber zerstört sich dadurch selbst und findet unweigerlich, wenn er dabei verharrt, seinen irdischen und ewigen Untergang.

Der Mensch sorge jeweils für den Tag und plane nur das wirklich Notwendige, das heute schon bedacht und für später vorbereitet werden muss. Er wühle sich nicht selbst in Gram und Sorgen hinein. Er wage es, das Leben zu bejahen und nicht mehr zu verneinen. Wenn er so den Anfang gemacht hat, - ohne diesen nimmt er innerlich nichts an, - wird ihm Weiteres und immer Größeres gegeben werden. Und zur rechten Zeit wird sein Garten, der Garten seiner Seele, voll Blüten stehen.’

Die Welt war ein Farbenfest von Goldgrün, sonnenüberleuchtetem Steingrau und Lichtblau, vom Tal über die Wiesenhänge hinauf bis zur Bergwand und zur Himmelshöhe. ‘Pfingstsonntagmorgen’, sagte Winfried, ‘Herabkunft des Heiligen Geistes. Aber… Maria nickte ihm zu. Sie standen vor ihrem Hause in der Morgenkühle, im ersten Sonnenschein eines makellosen Maientages.

‘Ja, aber!’ sagte Maria. ‘Weißt du irgendein Fest unter den Menschen, das lebendige Wirklichkeit und nicht bloß ‘Erinnerung an...’ wäre? Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Maria Verkündigung und alle anderen roten Kalendertage: Erinnerungen an schon damals von den Empfängern mehr oder weniger missverstandene oder verzerrte Lichtgeschenke. Jederzeit und überall wartet der Heilige Geist der Wahrheit und des Lebens, der Geist der Unendlichen Liebe, der Ausstrom Gottes selbst auf gläubige, vertrauende Seelen, die ihn in sich aufnehmen wollen. Vom innersten Menschenherzen her brennt Tag und Nacht dieses Feuer des Heiligen Geistes, um sich ihrem Haupte zu verschenken, als Herabkunft, als Ausgießung des Heiligen Geistes aus seinem Herzbereich in die irdische Welt. In jedem Augenblick kann es Wirklichkeit werden, wenn der Mensch sein Inneres Ja dazu spricht.

Ein Schlüssel, ein Himmelsschlüssel zu diesem Geschehen: Öffnet eure Augen und eure Seelen für irgend etwas Reines und Schönes, für das Lächeln eines Kindes, eines Mannes oder einer Frau, für das zarte Geheimnis eines Blumenkelches oder für die entrückte Lichtfülle eines Sonnenaufgangs oder Untergangs. Das ist ein Anfang. Erwartet nichts Bestimmtes, fordert nichts, seid nicht ungeduldig, seid nur bereit. Ihr könnt euch dieses innere Ja nicht abzwingen. Es will errungen sein durch eine allmähliche, schrittweise Änderung der inneren Haltung. Und das liegt nur an euch. Ihr habt - von den übersinnlichen Ebenen her, auch wenn ihr es noch nicht wahrnehmen wollt - unausgesetzt jede Hilfe, in jedem Augenblick eures Lebens. Und da euch das nicht genügt: Es wäre denkbar, dass ihr wenigstens einige meiner Worte, die euch in der irdischen Außenwelt vor Ohren oder Augen kommen, ernst nehmen und nach ihnen handeln würdet.’

FREIHEIT UND VERANTWORTUNG

Droben im Wald begegnete Maria eines Morgens dem Förster. Er war auf dem Heimweg von einem seiner Reviergänge. ‘Darf ich Sie ein Stück begleiten?’ bat er. ‘Ich hätte schon lange gerne mit Ihnen gesprochen.’

‘Sie denken viel über das Leben nach’, sagte Maria, ‘und kommen doch nicht zurecht damit.’

‘Gibt es überhaupt einen Gott? Der ‘liebe Herrgott’ meiner Kinderzeit ist mir schon lange zerbrochen. Wenn man so in die Natur und vor allem in die Menschenwelt schaut, muss man an einer gerechten und gütigen Macht über uns verzweifeln.’

‘Sie sagen mit Recht: ‘Vor allem in die Menschenwelt’. Je reifer die Wesen werden, umsomehr entziehen sie sich einer gerechten und gütigen Führung ihres Lebens. (Fallsweise tun es schon die niedrigen Naturstufen).’

‘Ja, kann Gott - wenn es einen gibt - nichts ändern an dem greuelhaften Getriebe auf der Erde, oder will er nichts ändern? Ist Gott machtlos oder ist er ein Teufel?’

‘Ebenso sinnvoll könnten Sie fragen: Kann ich, der Förster, es nicht verhindern, dass der Falke den Singvogel schlägt, oder will ich es nicht verhindern? - Sie könnten es verhindern für Ihren Bereich, wenn Sie die Falken ausrotten. Würden Sie das tun wollen? Die Seele, die im Falken wohnt, hat sich ihr Leben so gewählt. Freiwillig würde sie es nie ändern. Würden Sie diese Seele durch Ausrotten ihrer Körperlichkeit dazu zwingen wollen?’

‘Ich gebe zu, dass mir das irgendwie widerstreben würde.’

‘Gott ist das Geheimnis der Freiheit. Gott ist das Herz, die Quelle des Lebens, das seine Kräfte dem irdischen Bereich verschenkt. Die Kräfte, die es verschenkt, können je nach dem Willen der Wesen verwendet werden. Aus den Kräften der Erde, des Wassers, der Luft und der Sonne wachsen Äpfel und Tollkirschen. Wo kommt das Gift her? Drängt es die Erde, das Wasser, die Luft, die Sonne der Tollkirsche auf? Warum erzeugt dann nicht der Apfelbaum dieselben giftigen Säfte? Jeder kann die Kräfte, die ihm geschenkt werden, so formen und verwenden, wie er selber will.’

‘Dann wäre Gott jenseits von Gut und Böse, einfach Kraft, neutrale Kraft, die Segen oder Fluch bringen kann? ‘

‘Gott ist unendlich gut: Unendliche Liebe, die sich allen Einzelwesen verschenkt, ohne Lohn und Dank zu fordern, ohne ihre eigene Wesensart ihren Kindern aufzuzwingen. Sollte es nicht für alle ihre Kinder selbstverständlich sein, diese unbegrenzte Liebe wenigstens mit begrenzter Liebe zu erwidern, mit Dankbarkeit und Vertrauen?’

‘Wenn aber diese Unendliche Liebe, wie es immerfort und überall geschieht, so missbraucht wird, warum legt dann Gott der Erde und den Menschen nicht einfach ein Gesetz auf, das den Missbrauch verhindert?’

‘Nun seien Sie einmal ganz ehrlich: Würden Sie in Ihrem Hause und in Ihrem Lebensbereich in allem unweigerlich Gottes Gesetz befolgen oder würden Sie nicht doch lieber, wenn Sie es auch nicht offen eingestehen, selbst Herr sein wollen?’

‘Es ist schwer, es so offen zuzugeben, ja. Aber wenn ich wählen kann, will ich doch lieber selbst Herr sein und mein Leben so einrichten, wie es mir eben gefällt.’

‘Sie konnten wirklich so wählen, denn Sie waren einmal völlig frei. Gott hat Ihnen keine Beschränkung, die Sie nicht wollten, aufgezwungen. Sie selbst haben so gewählt, und so wie Sie haben alle Geistwesen getan, soferne sie Einzelwesen bleiben wollten. Nicht eines wollte etwas anderes in seinem innersten Wesen als: Herr sein. Nicht eines brachte so viel Vertrauen auf, dass es die Wahrheit erkennen konnte: Wer sich von Gott bis zu seiner geistigen Vollendung führen lässt als sein Kind, in bedingungslosem Vertrauen, der gelangt zu völliger Freiheit und Selbständigkeit in Gott. In der Unendlichen Freiheit Seines Wesens, die ihn tragen würde, wie die Luft den Adler trägt in schrankenloser Freiheit für alle Richtungen des Raumes.

Alle Einzelwesen sagten: ‘Nein, nicht getragen werden, das ist uns zu unsicher, Du könntest uns einmal fallen lassen. Wir wollen auf festem Grund stehen. Schaffe uns einen starren Grund, der also Deinem Wesen ferne steht. Dem wollen wir vertrauen. Wir wollen uns einbilden können, dass uns dieser Grund nicht trägt, sondern dass er von uns getreten wird. So sind wir Herren über Dich, den tragenden Grund des Lebens, wenn auch nur über Deinem eigentlichen Wesen fernste Hüllen.’ - Darum können die Wesen in ihrem inneren, seelischen und geistigen Leben samt und sonders nicht fliegen, sie sind nicht wahrhaft frei, sie kleben an der Erde, am Irdischen. Sie treten und zertreten, und werden getreten und zertreten. Denn kein ‘Herr’ will in seinen inneren Entschlüssen, die dann schließlich auch sein äußeres Leben als Schicksal bestimmen, auf andere Rücksicht üben. Er will schrankenlos Herr sein, und so zertritt einer den anderen.

Im äußeren Bewusstsein ist diese innere Haltung vielfach verdeckt, durch Erwägungen der Vorsicht und der Selbstachtung aus dem Sichtbereich verdrängt. Um so gefährlicher wirkt sie sich - unüberprüfbar durch das äußere Bewusstsein, das allein durch das selbstgeschaffene Schicksal leidet - im Unterbewusstsein aus, dem der Mensch aus mangelnder Entschlusskraft alle wichtigen irdischen und geistigen Entscheidungen überlässt. Das Unterbewusstsein, auf sich selbst gestellt, durch die Verdrängungsneigung des Tagesbewusstseins in feindlichem Gegensatz zu ihm statt in sich ergänzender Einheit, verfällt dem Massendenken und -fühlen. Nur in Einheit mit dem Tagesbewusstsein könnte es eigenpersönlich, selbstverantwortlich handeln. Dem Wesen der Masse entsprechend, die immer nach Zerstörung giert, entscheidet der Mensch dann im Irdischen und im Geistigen gegen das Leben. In seinen unterbewussten Bereichen aber genießt der Mensch sein selbstgeschaffenes ‘Schicksal’, das er in seinem Tagesbewusstsein als Leid empfindet, als Lust.

Solange die Menschen, vor allem die geistigen Führer der Menschheit, nicht den Mut aufbringen, vollbewusst und selbstverantwortlich ihre irdischen und geistigen Entscheidungen zu fällen, wird es nie anders werden auf der Erde. Denn trotz der dem inneren Wesen der Menschen starr verhafteten Herrschsucht würden viele Entscheidungen anders ausfallen, wenn sie wenigstens voll tagesbewusst getroffen würden. Die Menschen könnten sich dann den äußeren Folgen ihrer Entschlüsse nicht mehr so verschließen wie bisher - und Gott, der sie unablässig berät und warnt, für ihr selbstverschuldetes Unglück verantwortlich machen.’

‘Wieso können die Menschen das Schicksal, das sie tagesbewusst als Schmerz, als Qual und Leid empfinden, in ihrem Unterbewusstsein als Lust genießen?’

‘Da sie in ihrem eigenen Unterbewusstsein - eben wegen der feindlichen Trennung vom Tagesbewusstsein - dem Fühlen der Masse, der ‘Welt’, der ‘Leute’ verfallen sind, genießen sie deren Lust, deren Schadenfreude über ihre eigene Zerstörung, als ob es ihre eigene Lust wäre. Die Schadenfreude der Welt schlägt auf sie über. Sie können ja ihre eigenen Gefühle nicht von denen der Masse trennen. Sklavisch abhängig von ihr, wie sie eben sind, müssen ihre Gefühle im Gleichlauf mit der Masse schwingen, auch wenn sie selbst dabei geschädigt oder zerstört werden.’

‘Sie sagten vorhin: ‘Sie waren einmal frei.’ Sind wir es nicht mehr?’

‘Warum fragen Sie? Empfinden Sie sich als frei? Fühlt sich nicht jeder Einzelmensch, jedes Volk von dunklen Mächten, von ‘Schicksalsgewalten’ getrieben, deren sie längst nicht immer Herr werden? Sind die Menschen Herr über ihr Leben, über ihren Tod, wie sie doch sein wollten? Als Sklaven ihrer Herrschsucht sind sie Sklaven alles dessen, was sie beherrschen wollten: Sklaven ihres eigenen Leibes, Sklaven der Masse, des unpersönlichen ‘man’ (‘man darf nicht so denken, so fühlen, so handeln, man muss...’). Sklaven ihres ‘Gewissens’, das sie zu einer bedrückenden, lebensfeindlichen Macht umgefälscht haben und deshalb insgeheim unablässig lächerlich zu machen suchen, um seinem ‘Zwang’ zu entrinnen. Sie sind Sklaven ihrer Wissenschaft, ihrer Technik, die sie geschaffen haben und immer weiter ausbauen, um Herr über das Leben zu werden. Sie könnten aber auch, statt der Menschheit den Zugang zu höheren Lebensbereichen zu verrammeln, in richtiger Begrenzung das Leben der Allgemeinheit und des einzelnen fördern.

Ist der Mensch noch frei? Will er überhaupt frei sein? Dann dürfte er nicht mehr herrschen, beherrschen wollen. Er dürfte nicht an die Freiheit - wie an alles Geistige - mit dem Verstand herangehen und ihre Möglichkeit beweisen oder widerlegen wollen. Denn der Verstand sucht unausbleiblich zwingende Beweise, er sucht zu zwingen. Das darf er in der neutralen materiellen Welt, in der ihr zugehörigen Wissenschaft und Technik. Wenn er sich aber an das Geistige wagt, um es seiner Art gemäß zu ergreifen, begreiflich zu machen, zwingend für alle, dann zerbricht er daran. Und der Mensch, der sich dem Verstand als seinem Führer ergeben hat, zerbricht mit ihm. Kann der Mensch frei sein? JA. Ist er frei? Nein. Will er frei sein? Daran scheiden sich die Geister!’

‘Und wo wird das enden?’

‘Die Menschen guten Willens - alle, die sich noch den Mut bewahrt haben, tagesbewusst irdische und geistige Entscheidungen zu treffen, alle, die verfehlte Bindungen und Gewohnheiten loslassen wollen - werden sich in ihrem Tagesbewusstsein der Wahrheit aufschließen. Sie werden sich von ihr führen lassen und werden ihre Herrschsucht aufgeben.

Die Menschen bösen Willens (ihr ‘Wille’ ist nur noch Sucht zu genießen) - alle, die sich nur noch treiben lassen und die notwendige irdische und geistige Entscheidungen immer wieder verschieben und verdrängen, (obwohl sie erkennen müssten, dass ihre bisherige Lebensweise nach einer Änderung im Irdischen oder Geistigen verlangt), werden irdisch und geistig untergehen für immer. Ehe sie weiterhin - gestützt auf ihre irdische Macht, ihr irdisches Ansehen, ihre irdische scheinbar feste Stellung - innerlich die Wahrheit verhöhnen (in der Außenwelt sind sie zu feige dazu), ehe sie sich endgültig entscheiden, nicht zu entscheiden für oder gegen Gott und sich weiterhin treiben lassen, mögen sie an das Wort denken: Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber schrecklich klein!’

MARIA UND ES

An einem Sommerabend saß Winfried am Waldrand über den Wiesen, über die in leisen Wellen liebkosend der Abendwind strich, und sah herab auf sein Haus, in dem er Maria wusste.

‘Meine geliebte Frau’, sann er. ‘Im tiefsten Inneren nenne ich sie immer ‘Unsere liebe Frau’, ‘Madonna’. Es kann mich nicht mehr verwirren, dass sie ganz als Mensch bei mir ist. Sie sagt ja auch: jede Frau könnte es sein.’ Zum Abgrund der Unermesslichkeit, in der ich mich selig verliere, wird das erst, wenn ich ihre äußere Menschengestalt loslasse und ihrem inneren Wesen nahe komme. Dann sinke ich in ein brausendes, unermessliches Wehen, in ein unsagbares, unendliches Leuchten. Maria: Das ist das unendlich strömende Fluten, das Meer des ewigen Werdens und Seins. ‘Unsere liebe Frau’ kann ich sagen, wenn mir dieses Unendliche als Frau gegenübertritt. Aber ‘Mutter Gottes’ bleibt mir fremd.’

Die Sonne war untergegangen. In lichtem Blaugrün stand der Abendhimmel über ihm. Da flammte es plötzlich vor seinen Augen auf wie ein Blitz, der Tal und Berg in ein unendliches Flammenweben hüllte. Es stand vor ihm wie eine Menschengestalt und war dennoch Unendlichkeit. Ein Name brach auf in seinem Herzen: Maria!

Da drang ihre Stimme zu ihm, ganz ferne und ganz nahe zugleich: ‘Du siehst mich noch als Gestalt, denn anders könntest du mich nicht erkennen. Du siehst mich aber nicht als Mann und nicht als Frau. Denn ich bin Es. In meiner irdischen Gestalt muss ich Mann oder Frau sein, den Menschen gleich, als ihresgleichen. Denn anders würden sie mich nicht unter ihnen dulden wollen. Wo ich wie hier in der Verborgenheit wirken kann, ist meine irdische Gestalt die Gestalt der Frau. Denn die mütterliche Gestalt der Frau ist das vollkommenere Ausdrucksbild der Unendlichen Liebe. Als Ewiges Du der Menschen bin ich jeder und jedem Mann oder Frau. Denn kein Menschenwesen kann mich als ES verstehen und lieben. Geh nun hinunter und sprich weiter mit mir in meiner Menschengestalt.’

Er traf sie im Wohnzimmer. Sie erwartete ihn. In tiefem Staunen sah er sie an. ‘Du sollst jetzt mit meiner Menschengestalt sprechen’, sagte sie. ‘Anders kann mich die Welt nicht verstehen, und ich bin ja für alle da. Was du erlebst und verstehst, strahlt aus zu allen.’

Sie lächelte. ‘Ich weiß, was du fragen möchtest. Ich lebe auf allen Ebenen genau so bewusst, wie ich jetzt zu dir spreche. Für mein Bewusstsein brauche ich keine Menschengestalt. Ich brauche sie nur, weil die Menschen keine andere Erscheinung meiner selbst annehmen wollen, und sei es nur, damit sie sich von mir trennen können. ‘Unsere liebe Frau’, ‘Madonna’, ‘Königin des Himmels’ bin ich selbst als Weltseele, als bergende Heimat aller. Ihr sollt nicht mehr ‘Mutter Gottes’ sagen. Ich selbst bin Vater und Mutter aller Wesen.

Immer hat es Menschen, vor allem Frauen gegeben, die eine Verkörperung meiner selbst auf der Erde sein und so dem Ganzen dienen wollten. Immer wurde ihr Wille erfüllt. Keiner und keine von ihnen hat meinen Willen erfüllt, allen zu dienen, auch die Mutter meiner irdischen Hülle als Christus nicht. Nur ihre innere Haltung den Ereignissen der Außenwelt gegenüber war treu.

Ihr sollt auch nicht mehr ‘Herr’ oder ‘Herrgott’ von mir sagen. Nie wollte Ich, euer ewiges DU, etwas anderes sein als euer Freund, euer Vater, eure Mutter, euer Geliebter, eure Geliebte, führende und helfende Hand, bergender Schoß, Herz und Heimat.

SCHEIDUNG DER GEISTER

’Manches aus dem Alten Testament stiftet immer noch Verwirrung’, sagte Winfried eines Morgens zu Maria. ‘Der Sündenfall als Begründung für das Elend in der Welt, die Vertreibung aus dem Paradies, die Verfluchung der Menschheit und mit ihr der ganzen Schöpfung durch Gott, das seltsame, jämmerliche Verhalten Adams, des Stammvaters der Menschheit, der nach dem Sündenfall seine Schuld sofort auf Eva abzuwälzen suchte (‘das Weib hat mich verführt’). Ferner die gotteslästerliche Erzählung, Gott habe den Menschen einen Baum mit lockenden Früchten mitten in ihr Paradies gepflanzt und ihnen zugleich bei Todesstrafe verboten, von diesen Früchten zu essen.

Ich weiß heute: Gott stellt keine Bewährungsproben, Gott führt niemand in Versuchung - im Vaterunser heißt es: ‘Führe uns in der Versuchung (durch die Welt)’ - und vor allem: Gott straft nicht. Die Gestalt und der Name Eva, ‘Mutter der Lebendigen’, hat aber etwas Leuchtendes, eine Wahrheit in sich. Mit der Gestalt und dem Namen Adam konnte ich mich nie befreunden.’

‘Adams Verhalten - Herrentum und jämmerlicher Zusammenbruch - steht für das Verhalten Luzifers, seiner Mitschuldigen und aller ihrer Trabanten bis heute: Raffgier nach Leben und Wissen, nach gottgleicher Würde und Macht - und jämmerlicher Zusammenbruch, wenn sie vor den Folgen ihrer Verbrechen gegen ‘Das Leben’ stehen: Abwälzen der Schuld auf die ‘Mutter des Lebendigen’, auf die Weltseele, auf mich selbst. Eva ist eine andere Namensform für Maria.

Mitten in diesen missdeuteten Gesichten steht als Wahrheit das Wort: ‘Das Weib - die Weltseele, die tragende und duldende Liebe - wird der Schlange den Kopf zertreten.’ Der Kopf der luziferischen Mächte, ihr Verstand, den sie als Waffe gegen die Wahrheit und Liebe, gegen die Weltseele kehren, zerbricht unter ihren lichtwärts wandernden Füßen.

Immer hat die Menschheit sich selbst aus den Paradiesen, aus den Höheren Ebenen des Lebens vertrieben. Immer hat die Menschheit selbst ihre Wohnstatt, die Erde, und die Arbeit auf der irdischen Ebene verflucht. Wohl steht vor dem Paradiese, vor den Höheren Ebenen des Lebens der ‘Erzengel mit dem flammenden Schwert’: Michael, die Kampfkraft Gottes als Teilkraft der Unendlichen Liebe. Er steht aber hier nicht als Feind, er steht hier als Warner, als Hüter der Schwelle.

Wer nicht in der Wahrheit leben will, bleibe fern von diesen Bereichen. Er giere nicht nach dem Gold des göttlichen Lichtes. Er bleibe in seinem Denken und Trachten auf der irdischen Welt, auf der einzigen Ebene, in der auch der Abtrünnige noch leben und atmen kann. Wer lügen, betrügen, heucheln, schmarotzen und feige sein will, und trotzdem in diese Bereiche sich einschleichen möchte, der zerbricht an der unerbittlich sein Wesen enthüllenden Wahrheit; am flammenden Schwert, am sengenden Jenseitslicht des Todesengels: Scheidung der Geister.

Michael ist die Weltseele selbst, Gott selbst als Kampfgestalt, als Verwandlungskraft, als Hüter der Schwelle, als tragende, duldende und kämpfende Liebe durch alle Bereiche des Lebens herauf. Denn nie anders als kämpfend und duldend konnte die Unendliche Liebe die Wesen tragen bis zu ihrer Vollendung im gestalthaften Ewigen Licht oder im geistigen Tod. Immer war und ist es ein Kampf für das selbstgewählte Ziel aller Wesen. Gott ist kein Feind irgendeines Wesens. Wer zerbrechen will, zerbricht an mir. Wer untergehen will trotz allen Warnungen, geht in mir unter. Wer das ewige Leben will, findet zu meinem Herzen, möge seine Verblendung, seine Schuld auch ungeheuerlich sein. Das Licht sucht und findet das Licht, das Urlicht, seine Heimat!’

Es ist ein Ros’ entsprungen
aus einer Wurzel zart.
Ein Stern ist aufgegangen
nach seiner Heimat Art.
Und hat das Licht gebracht
mitten im kalten Winter
zur tiefen Mitternacht.