Wernot der Gärtner
Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Knabe, standen am Quell, als die Sonne sank, und sahen mit fragenden großen Augen nach oben, wo über den Wipfeln des Waldes ungeheuer der Berg stand, röter als Abendrot.
'Nichts als Eis und Schnee und rote Felsen seien da droben, sagen die großen Leute', meinte der Knabe zögernd. 'Die großen Leute!' gab das Mädchen geringschätzig zurück, 'was wissen die schon. Es ist noch keiner hinaufgekommen. Ich sage dir, es sind Elfen da droben und Blumen, wie sie auf den Himmelswiesen wachsen - auch wenn die anderen immer spotten, ich träume bloß.'
Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Knabe, standen am Quell, als die Sonne sank, und sahen mit fragenden großen Augen nach oben, wo über den Wipfeln des Waldes ungeheuer der Berg stand, röter als Abendrot.
'Nichts als Eis und Schnee und rote Felsen seien da droben, sagen die großen Leute', meinte der Knabe zögernd. 'Die großen Leute!' gab das Mädchen geringschätzig zurück, 'was wissen die schon. Es ist noch keiner hinaufgekommen. Ich sage dir, es sind Elfen da droben und Blumen, wie sie auf den Himmelswiesen wachsen - auch wenn die anderen immer spotten, ich träume bloß.' Sie kniete am Quell nieder und schöpfte von seinem Wasser in ein Krüglein. 'Merkst du, wie der Quell wieder duftet?' fragte sie den Gespielen. 'Meine Mutter sagt, alles Herzweh der Welt könnte er heilen, wenn sie nicht so roh und ungläubig wären, die Menschen.'
Oben aber im Bergeslicht stand Wernot der Gärtner, der Herr des Berges und seiner Felsengärten, und hinter ihm tief im heißen Gestein grollte der innerirdische Feuersee.
Wernot sah herab in die dunkelnden Täler der Menschen. 'Wie Rosenglut liegt es noch über den Niederungen, geliehener Glanz bloß und Widerstrahl. Hier oben aber meine glühenden Rosen, der Oleander und perlmuttfarbene Flieder, ihr feuerheißen und schneekühlen Kelche, ihr seid lebendige Sonnenglut und Mondenschleier, ihr verzehrt und verhaucht euch ins blaue Meeresleuchten des Tages über den Gipfeln. Tiefer aus sich selbst und reiner brennt hier alles Leben als dort in den Niederungen. Und doch dienen wir jenen, die dort in der Tiefe wohnen.'
Am anderen Rande des Absturzes stand seine Hütte, begnadet vom ersten und letzten Licht des Tages, von Sommergewittern und Mittwintergraus umstürmt und gerüttelt.
Wernot holte drei Krüge und schritt den blühenden Felswänden entlang. Er sammelte den Tau in den Blüten, der honigduftend aus ihren Kelchen rann. Mit den vollen Krügen ging er wieder in seine Hütte, in ihr innerstes Gelaß tief in den Felsen. Da stand im Dunkeln ein Kreis von Schalen, gefüllt mit dem Tau bis zum Rande. Sie leuchteten in verschiedenartigem Glanze, kaum merklich schimmernd wie das beschattete Rund des Sichelmondes die einen, die anderen aber in lebensprühendem Lichtgelb wie Königskerzen, in kühlem Meeresblau und in geheimnishaft tiefem Blutrot.
Er nahm drei Schalen, die am stärksten leuchteten, leerte sie in einen kristallenen Kelch und füllte die Schalen aus den drei Krügen. Dann nahm er den Kelch, band ein Stück Linnen darüber und verließ mit ihm seine Hütte. Zwischen den Felsen stieg er hinab, bis er zur Brunnenstube des Berges kam, zum Ursprung der Quelle unten am Waldrand. Ein schmales, eisblaues Rinnsal schoß hier aus dem Gestein heraus und versank wieder in einer Felsenspalte. Wernot legte den Kelch darüber, so daß langsam, Tropfen um Tropfen, der silbergraue Honigfluß des Kelches durch das Linnen hindurch in das Quellwasser sank.
Dann stieg er wieder nach oben und lehnte sich an die Tür seiner Hütte. Unweit von ihm plusterte sich an den wärmenden Felsen ein Geiervolk. Rüpelkrah und Lümmelkolk mit ihren jüngeren Brüdern. Sie schrieen und fauchten in den stillen Abend hinein. Wernot drohte mit der Faust hinüber. Rüpelkrah zuckte ein wenig mit den Krallen und krächzte boshaft.
Wernot wandte sich ab und sah hinauf zum nahen Gipfel des Berges. Seine Augen brannten in sonst tief verborgener Sehnsucht. Wie eine Spiegelung des Berges unter ihm stand da über den Felsenspitzen ein Gebirge im Himmelsmeer. Über seine Hänge sprang und schwebte Wunelind, die Elfe, von Seligkeit trunken wie ein Frühlingsfalter. Sie tauchte herab in die flaumige Wolke, die der Hauch des Oleanders, des Flieders und der Rosen über den steinernen Hängen wob.
Im Schweben löste sie ihr Gewand und stand selber wie eine goldene Blüte im Honigatem der Gärten, der ihres Leibes Nahrung und Balsam war.
'Komm herab zu meinen Blumen und zu mir', rief Wernot sie an. 'Sieh, wie sie alle beseelter leuchten, wenn du über ihnen schwebst. Wie müssen deine Hände sie pflegen können! Schon mir, der ich nichts Zartes an mir habe, danken sie mit soviel Blütenrausch und Seligkeit.'
Sie wirbelte mit den Flügeln, daß ihre Haare wie ein seidenes Gespinst flogen. 'Ganz da droben wohne ich, unter dem höchsten Gipfel des Wolkengebirges. Nie könnte ich bei euch auf der Erde bleiben.'
'Und doch nährt auch dich die Erde mit ihren edelsten Kräften, mit dem Hauch ihrer Blumen.'
'Das ist auch das einzige. was ich von euch haben will.' Sie lachte und flatterte höher. 'Spring mir nach, wenn du kannst!'
Wernots Antlitz verfinsterte sich. Wunelind schwebte wieder näher. 'Und wenn mir schon alles hier gefiele,' sagte sie ernst, 'bei deinen Geiern könnte ich nie bleiben. Du weißt selbst, wie gierig und lärmend sie sind.'
'Bei meinen Geiern?' fragte Wernot erstaunt. 'Was habe ich mit diesen Geiern zu tun?'
'Wohnen sie nicht ganz in deiner Nähe? Beschmutzen sie nicht die Gärten, die deiner Pflege anvertraut sind?'
Am anderen Morgen war Wernot zeitig mit seinem Bogen fortgegangen und kehrte nun mit einem Murmeltier zurück, das er weiter unten erlegt hatte. Da schwebte Rüpelkrah heran, riß es ihm aus der Hand und flog damit auf das Hüttendach. Breit und frech setzte er sich auf dem First zurecht und begann die Beute zu kröpfen. Zornig legte Wernot einen Pfeil auf den Bogen und schoß nach dem Geier. Zischend schlug er ins dichte Brustgefieder. Rüpelkrah fegte ihn lässig mit den Krallen herab. 'Du wirst mich doch nicht schon beim Frühstück stören wollen!' sagte er schmatzend.
Wernot wurde bleich. Er hob einen Felsbrocken auf und schleuderte ihn nach dem Räuber. Rüpelkrah wich gewandt aus und fraß ruhig weiter. Da holte Wernot hinter der Hütte eine Leiter hervor, stieg auf das Dach und ging den riesigen Geier mit dem Messer an. Da strich er krächzend ab. 'Werde mir ja nicht aufsässig, Wernot! Das nächstemal komme ich mit meinem Bruder!'
Wernot sah ihm nach. Ratlos schüttelte er den Kopf. Da kam ein Ruf von unten her. Er trat an den Rand des Absturzes. Durch die Felsen stieg eine abenteuerliche Gestalt zu ihm herauf. 'Spirifunkel!' rief Wernot erstaunt, 'was tust du schon so früh hier heroben?'
Der Bergsteiger, ein zwerghaftes Männchen, hatte nun den ebenen Fels erreicht und kam auf ihn zu. 'Ich bin eben immer geschäftig und in Bewegung wie eine Mütze voll Regenwürmer!', kicherte der Kleine. Er hatte zwei Köpfe mit flinken Mausaugen. denen nichts Sichtbares im Umkreis entging. Nun verbeugte er sich tief, daß ihm fast die Hüte von den Köpfen fielen. Er rückte sie zurecht, ein feuerrotes Hütlein links, ein grasgrünes rechts, mit Krähen- und Hühnerfedern, mit Geierflaum und Blumen besteckt.
'Eine umständliche Sache, zwei Köpfe', sagte Wernot spöttisch, 'mir langt einer.'
'Sage das nicht!' rief Spirifunkel hitzig, 'das ist sogar sehr pfiffig ausgedacht so. Jedes Ding in der Welt hat doch zwei Seiten, und so kann ich es zugleich loben und schelten, zugleich Ja nicken und Nein schütteln, zugleich lügen und die Wahrheit sagen, wie ein Mann von geistigem Range tun soll.'
Er marschierte im Takte auf und ab, zugleich singend und pfeifend und die Köpfe schüttelnd. 'Links denkt, recht denkt, rechts denkt, links denkt! So bin ich nie müde und immer lustig wie ein Baum voll Affen.'
Er kam wieder zu Wernot. 'Nun will ich eine Beschreibung des Geländes hier oben und seiner Pflanzen- und Tierwelt verfassen, damit die da unten wissen, was über ihnen in den höheren Sphären lebt. Auch dich zu erwähnen werde ich nicht vergessen. Genaues, säuberlich eingeteiltes, durch Vollständigkeit und zwingende Logik bestechendes Wissen: Das ist die Krone des Lebens!'
Am nächsten Morgen kam Wernot von der Jagd zurück, mit zwei Schneehasen am Gürtel. Da saßen Rüpelkrah und Lümmelkolk vor der Tür seiner Hütte. Sie hatten seine Vorratskammer ausgeräumt und dösten nun vor den Resten ihrer Mahlzeit. Doch hatten sie die Augen offen und beobachteten ihn. Wernot stieg das Blut zum Kopf. 'Täglich werden sie frecher.' Er gab jedem von ihnen einen Tritt, daß sie beiseiterückten, sprang in die Hütte, hieb die Tür hinter sich zu und überlegte. 'Ich weiß nicht, wie ich mir das Raubgesindel vom Halse schaffen soll. Tag und Nacht sind sie wachsam und ich habe nicht einmal eine wirksame Waffe gegen sie.'
Er trat wieder aus der Hütte und ging seinem Tagwerk bei den Blumen nach. Die Geier waren fortgeflogen. Sie saßen drüben bei ihren Brüdern auf den Steinen, flügelschlagend und lärmend.
Als Wernot in der Frühe des nächsten Tages seine Hütte verließ, kamen Rüpelkrah und Lümmelkolk mit noch einigen anderen schon auf ihn losgeschossen. 'Schaff uns was zu fressen!' schrie Rüpelkrah. 'sonst müssen wir dich auseinandernehmen!' 'Ausdärmen und abnagen!' krächzte Lümmelkolk. Wernot warf ihnen einen Hasen von gestern zu und ging seiner Wege. Hinter ihm zankten sich die Geier um den Hasen.
Als Wernot zurückkam, saßen die Geier noch da. 'Du darfst mich nicht so knapp halten!' schrie ihm Rüpelkrah entgegen. 'Sieh her, ich will mir einen Bauch anmästen, einen richtigen Bauch, daß ich auch aussehe wie ein Mensch. Da brauche ich aber Zulagen. Wenn ich alles selbst fangen soll, muß ich mich zu sehr anstrengen. Dafür bin ich mir von nun an zu vornehm. Laß es dir gesagt sein, sonst kann ich unangenehm werden!' So ging es nun Tag für Tag. Nur für Augenblicke noch wagte sich Wunelind in die Duftwolke über den Gärten, in denen bis zum sinkenden Abend und oft bis mitten in die Nacht die Geier lärmten. Sie hausten darin wie in ihrem Eigentum. Wernot wurde immer düsterer. Spirifunkel aber fühlte sich in all der Unruhe wohl. Er schlüpfte hierhin und dorthin, sah und hörte jede Lebensregung, maß und beschrieb jede Einzelheit. Schließlich hatte er alle Unterlagen gesammelt für ein geordnetes, beweisbares System der Sachbestände hier oben. Die Felsen, der Himmel, Wernot, die Geier und die Blumen hatten sich in seinen Gedanken einträchtig zusammengefunden. Auch sich selbst, den Ordner des Ganzen hatte er mit hineinverwoben. Er hatte ein lückenlos zusammenpassendes, harmonisches Denkgebäude geschaffen aus dem reinen Leuchten der Lichtwelt und aus Schmutz, Gemeinheit, Gier und Zerstörungswut. Spirifunkel triumphierte. Nur ein einziges Geheimnis galt es noch aufzudecken. Sonst hatte ihn Wernot überall gewähren lassen, nur den Zutritt zur Kammer mit den Schalen im Bergesinneren hatte er ihm streng verboten. Aber Spirifunkel wartete auf seine Gelegenheit.
Eines Mittags saß Wernot vor seiner Hütte und hing seinen einsamen Träumen nach. Um diese Zeit war es sonst leidlich ruhig, denn die Geier plusterten sich träge in der Sonnenhitze. Heute aber umgab ihn plötzlich pfeifender Flügelschlag und Gekrächze. Rüpelkrah und Lümmelkolk waren mit der ganzen Schar der kleineren Geier von ihren Felsen herübergeflogen. Frech pflanzten sie sich vor ihm auf und starrten ihm ins Gesicht. 'Da steckt Spirifunkel dahinter', dachte Wernot. 'Es läßt ihn nicht ruhen, solange hier oben noch irgend etwas unversehrt und damit seinem Zerlegungs- und Zerstörungstrieb entzogen ist. Nun, mir ist schon alles gleichgültig geworden.'
'Wernot!' schnarrte da Rüpelkrah, 'ich komme mit einem Anliegen.' Er hopste noch etwas näher. 'Bei uns drüben geht es sehr zwanglos zu. Jeder kann sich erleichtern, wie und wo er mag. Nun kann man aber nirgends mehr aufblocken, ohne auszugleiten. Da muß endlich Ordnung geschafft werden! Ich habe meinem Volk befohlen, von heute ab ausschließlich deine Hütte als Abtritt zu benutzen. Du hast doch sicher nichts dagegen?' Lümmelkolk krächzte schadenfroh: 'Bedanke dich für die Ehre!'
Wernot wandte sich wortlos ab. Da versetzte ihm Rüpelkrah hinterrücks einen Schnabelhieb in den Nacken, daß er betäubt niederstürzte. Schon wollten auch die übrigen Geier auf ihn losfahren, da sahen sie etwas, was sie im Augenblick mehr reizte als ihr gefällter Gegner, der ihnen ohnehin nicht mehr entgehen konnte. Spirifunkel hatte seine Stunde für gekommen gehalten. Bisher hinter der Hütte versteckt, huschte er nun hervor und durch die Türe hinein. Die Geier stoben ihm nach. Schon hatte ihn Rüpelkrah in den Fängen. 'Nicht mich!' kreischte Spirifunkel. 'ich habe euch doch erklärt, wie ihr Wernot bekommen könnt!' 'Ha!' knarrte Rüpelkrah, 'nun bekommen wir eben auch dich. Jetzt wollen wir allein herrschen!' 'Was habt ihr von mir? Etwas viel Besseres kann ich euch geben, Glutwein für Götter, da drinnen im hintersten Gelaß!' 'Hole ihn, aber wehe, wenn du uns betrügst!'
Bald brachte Spirifunkel die Schalen angeschleppt. 'Hier, o Herr!' Rüpelkrah kostete von einer Schale mit goldgelbem Saft, die ihm am meisten in die Augen stach. 'Fades Zeug!' schnarrte er verächtlich. Beflissen hielt ihm Spirifunkel eine andere, mit tiefrotem Saft an den Schnabel. 'Fades Zeug, weg damit!' Da hielt ihm der Kleine zitternd eine Schale mit meerblauem Inhalt hin. Kaum hatte Rüpelkrah davon gekostet, als er wie rasend aufsprang und gröhlend vor Lust ins Freie stürzte. Die Schale war zu Boden gestürzt, wo die übrigen Geier zitternd vor Gier die letzten Tropfen erschnappten. Mit prasselnden Flügelschlägen holten sie ihren Meister ein.
Über dem Abgrund hing wie ein rasend sich drehender scheußlicher Klumpen der Geierschwarm. Schrilles Kreischen, Schreie tollwütiger Lust drangen aus dem Flügelgewimmel zu Wernot, der wieder zu sich gekommen war und auf einen Arm gestützt den Geiern zusah. Hinter ihm stand fassungslos Spirifunkel. Aus dem giergepeitschten Wirbel da draußen hob sich nun allmählich ein Dunstschleier, der zur Wolke wurde, erst schiefergrau, dann düsterbräunlich, dann schwarzblau. Wernot erhob sich. Ein Flammen trat in seine Augen. 'Nun darf ich anders sein, die Zeit ist erfüllt, ich brauche nicht mehr mit Menschenwaffen zu kämpfen.' Er hob die Rechte. 'Als Herr des Berges erfülle ich nun das Gesetz.' Ein Flammenstrahl spaltete den Geierwirbel, das rasende Greuelwesen zuckte wie eine einzige Feuerzunge auf, erst weißglühend zischend, dann trübrot verflackernd, dann grau verstäubend. Ein Aschenregen rieselte zu Tal.
Durch die geklärten Lüfte strömte das Abendlicht um den Berg und über die Felsengärten. Ein neuer Atem wehte über die Hänge und in ihm lebten die zerfetzten und zertretenen Gärten wieder auf. Spirifunkel stand verständnislos im Hintergrund. Zum erstenmal wußte er nichts von dem allen zu deuten. Er stieg hinab zur Tiefe der Täler. Dort allein wußte er sich von nun an zu Hause.
Wieder standen die zwei Kinder, das Mädchen und der Knabe, am Quell, als die Sonne sank, und sahen mit fragenden großen Augen nach oben, wo ungeheuer der Berg stand, röter als Abendrot.